Sonntag, 25. Februar 2018

Die SPD muss zurück in die Mitte der Gesellschaft

Die SPD befindet sich seit geraumer Zeit in der Krise, inzwischen steht gar die Frage im Raum, ob die Partei wie etwa ihre Schwesterparteien in Frankreich oder den Niederlanden von einer Volks- zu einer Nischenpartei verzwergt. Wie konnte es bloß soweit kommen?

Für den über Jahre anhaltenden Zustimmungsverlust gibt es mehrere Ursachen, eine zentrale liegt aber vor allem in der unklaren inhaltlichen Grundausrichtung der Partei, die mit einem anhaltenden Mangel an Selbstbewusstsein einhergeht.

So bizarr es für manchen Außenstehenden wirken mag - seelisch beschäftigt sich die SPD noch immer mit der Lesart eines politischen Programms, das vor inzwischen mehr als 15 Jahren (!) vom damaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder initiiert wurde - der Agenda 2010.

Manche waren der Ansicht, mit diesem Programm würde die SPD ihre eigenen Grundwerte, insbesondere das Streben nach Solidarität, verraten. Und in der Rückschau enthielt die Agenda tatsächlich vereinzelte soziale Härten.

Agenda-Schmerz hält noch immer an

Nun sind 15 Jahre vergangen und noch immer hält in Teilen der Mitgliedschaft, insbesondere bei den langjährigen Mitgliedern, dieser Agenda-Schmerz an. Wenngleich nicht mehr direkt von der Agenda 2010 die Rede ist, so wird doch immer wieder Kritik laut, wonach es der Partei an linkem Profil fehle. Nicht anders lässt sich sonst die vor allem vom linken Parteiflügel proklamierte Forderung nach einer "Erneuerung der Partei" verstehen. Die Botschaft dort lautet: Wir müssen uns wieder zu einer linken Volkspartei entwickeln, die "Spiegelstrich-Politik" beenden.

Hat die SPD-Parteiführung also tatsächlich in den vergangenen 15 Jahren nichts gelernt? War alles, waren auch die Regierungsbeteiligungen der vergangenen Jahre allesamt schlecht? Gewiss nicht.

Gerhard Schröder wurde zwar in der Tat wegen der Agenda 2010 abgewählt, die Agenda war zu Beginn auch Stimmquell der Linkspartei. Letztlich aber doch nur deshalb, weil nicht absehbar war, welche ausgesprochen erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung Deutschland durch die Struktur-Reformen in den Folgejahren nehmen würde. Nicht nur manche Politiker agieren manchmal kurzsichtig, die Wähler tun es ihnen des Öfteren gleich.

Abgesehen vom kurzfristigen Wachstums-Einbruch im Jahr 2009 im Nachgang der weltweiten Finanzkrise ist jedoch die Wirtschaft in Deutschland seit 2005 stetig gewachsen. Und nicht nur das: Die Arbeitslosenquote sank von 11,7 Prozent im Jahr 2005 auf 5,7 Prozent im Jahr 2017. Im Januar 2018 waren gerade einmal noch 2,57 Millionen Menschen als arbeitslos registriert, 13 Jahre zuvor waren es mehr als fünf Millionen.

Nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, selbst politische Mitbewerber haben inzwischen öffentlich anerkannt, dass die Agenda 2010 von Gerhard Schröder unterm Strich ein großer Erfolg war, Deutschland hat sich "vom kranken Mann Europas" zur wirtschaftlich stärksten Nation innerhalb der europäischen Gemeinschaft entwickelt. Es war ein Strukturprogramm, von deren positiven Folgewirkungen Kanzlerin Angela Merkel während ihrer gesamten Amtszeit zehren konnte, von dem sie im Prinzip bis heute zehrt. Und das schlechterdings, ohne selbst politische Akzente zu setzen.

Partei steht nicht zu ihren eigenen Erfolgen

Die SPD profitierte und profitiert von der Agenda hingegen bis heute nicht. Und das hat sie sich im Wesentlichen selbst zuzuschreiben. Ja, die Agenda hatte Härten, doch diese wurden in den Folgejahren von den Sozialdemokraten selbst zurückgedreht. Der Rente mit 67 wurde die Rente mit 63 für körperlich hart arbeitende Menschen entgegengesetzt, darüber hinaus wurde der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn eingeführt - um nur zwei Beispiele zu nennen.

In der Merkel-Ära haben zudem Sozialdemokraten entscheidend dazu beigetragen, dass Deutschland auch nach den Schröder-Jahren gut regiert wurde. Es war beispielsweise Finanzminister Peer Steinbrück, der die Bundesrepublik sicher und ohne größere Schäden durch die Finanzkrise steuerte. Es war Frank-Walter Steinmeier, dem es gelang, mit dem Iran das wegweisende Abkommen zur Beendigung des Atom-Konflikts zu schließen.

Dass die SPD von ihren eigenen Erfolgen seit 2005 kaum profitiert, hängt insofern vor allem damit zusammen, dass ein Teil der Mitgliedschaft noch immer mit der eigenen weitgehend erfolgreichen Parteipolitik fremdelt. Steinmeier, Steinbrück und nicht zuletzt auch Martin Schulz verloren Bundestagswahlen, weil die SPD stets in der Öffentlichkeit den Eindruck vermittelte, dass sie nicht mal selbst an ihre eigene Politik glauben würde.

Unzählige Male wurde Martin Schulz im Wahlkampf von Journalisten befragt, wofür denn die SPD nun eigentlich steht. Das zeigt auf ganz bizarre Weise, dass kaum jemand die Positionen im Wahlprogramm wirklich ernst genommen hat. Und das nun ganz offensichtlich aufgrund der Tatsache,  dass niemand vonseiten der SPD glaubhaft vermitteln konnte, dass er tatsächlich hinter dem Geschriebenen steht. Wer aber nicht an sich selbst glaubt, der gewinnt eben nun mal auch keinen einzigen Blumentopf bei Wahlen.

Wenn sich die Parteiführung also einen Vorwurf gefallen lassen muss, dann den, dass sie es weder verstand, ihre Politik der eigenen Basis klar zu vermitteln, noch es verstand, die Erfolge ihrer Politik auch selbstbewusst nach innen und nach außen zu kommunizieren. Beides bedingt sich letztlich.

Und aus diesem Zusammenhang ergibt sich eine weitere Erkenntnis: Die CDU hätte sich niemals so erfolgreich "sozialdemokratisieren" können, wenn die SPD stets mit breiter Brust aufgetreten wäre und die zweifellos vorhandenen Erfolge berechtigterweise für sich reklamiert hätte. Im Bundestagswahlkampf 2017 warb die CDU auf Wahlplakaten mit dem Slogan "Für faire, gerechte Löhne". In der SPD störte sich jedoch daran niemand mehr, selbst Arbeitsministerin Andrea Nahles blieb medial stumm - eine symptomatische Momentaufnahme.

Die SPD braucht keinen Linksruck, sondern eine echte Erneuerung

Nach der Bundestagswahl im vergangenen Jahr ist die SPD nun tatsächlich auf eine Erneuerung angewiesen. Nur stellt sich die Frage: auf was für eine? Manch einer versteht unter Erneuerung einen neuerlichen Linksruck (auch wenn dies so offen wiederum nicht gesagt wird). Und diese Erneuerung sollte doch in der Opposition vollzogen werden. Nun, wer möchte, dass die SPD mit etwas Glück mittelfristig wieder zu alter Stärke findet, sollte Abstand von dieser Haltung nehmen. Denn mit recht hoher Wahrscheinlichkeit würde man auch die letzten Anhänger verprellen, die bis zuletzt der an sich selbst zweifelnden SPD die Treue gehalten haben.

Wer möchte, dass die SPD eine linke Volkspartei bleibt (oder sich zu einer solchen wieder entwickelt), der sollte sich zunächst mal die Begrifflichkeit "Volkspartei" vergegenwärtigen. Eine Volkspartei ist eine Partei, die Politik für breite Bevölkerungsschichten macht, also eben nicht nur für Hartz-IV-Empfänger und Flüchtlinge, sondern gleichwohl auch für Auszubildende, Studenten, Facharbeiter, Angestellte, Familien und Rentner. Eine linke Volkspartei unterscheidet sich außerdem von einer reinen Linkspartei dadurch, dass sie nicht nur Leistungsschwachen, sondern auch Leistungsträgern einer Gesellschaft programmatische Angebote macht.

Und entgegen der Wahrnehmung mancher innerhalb der SPD, hat die Partei in den vergangenen Jahren vor allem die Leistungsträger - und nebenbei bemerkt: das ist ihre wichtigste Wählerklientel - weitgehend vernachlässigt. Mit Leistungsträgern sind hierbei eben jene Facharbeiter, Angestellten und Familien gemeint.

Vernachlässigt heißt in diesem Fall: Sowohl in der Alltagspolitik, in der Kommunikation vernachlässigt, als auch in der Programmatik, insbesondere im Wahlprogramm.

Spiegelstrich-Politik ist besser als blanker Populismus

Welche Antworten hat die SPD für hart arbeitende Mittelschicht-Familien, die eben Angst haben, aus der Mittelschicht abzusteigen? Für die Wohnungen und Kitas zu teuer werden? Die ihre Kinder auf mehr oder weniger verrottete Schulen schicken müssen? Die rekordverdächtig hohe Steuern und Abgaben zahlen müssen? Die monatelang auf einen Termin beim Augenarzt warten müssen? Was sagt die SPD zur Digitalisierung? Sind die Arbeitsplätze von heute morgen auch noch sicher? Welche Chancen könnten im digitalen Wandel stecken?

Und nicht zuletzt: Welche Antworten gibt die SPD in einer Welt, die immer komplizierter wird? Wenn jemand meint, man sollte keine "Spiegelstrich-Politik" - also Politik im Klein-Klein - betreiben, sollte er sich die Frage gefallen lassen, ob einfache Antworten tatsächlich das bessere Mittel für eine immer komplexer werdende Welt sind. Oder meint ein Ende der "Spiegelstrich-Politik" gar den Schwenk hin zu einer populistischen Politik? Sollte die SPD in der Wahl ihrer Mittel auf AfD-Niveau absinken?

Nein, die SPD muss zurück in die Mitte der Gesellschaft. Sie muss zeitgemäße Antworten und Lösungen für die großen Herausforderungen finden, mit denen dieses Land in den kommenden Jahren konfrontiert sein wird. Und so bitter die gegenwärtige Krise der SPD auch ist - noch kann sie ihre Chance nutzen, wenn sie der Koalition mit der Union zustimmt. Im Koalitionsvertrag ist es ihr gelungen, vielversprechende inhaltliche Ziele festzuschreiben, zudem könnte sie wichtige Ministerien besetzen (Außen, Finanzen, Arbeit, Justiz, Familie, Umwelt), hätte also auch in der Regierung die Kraft, um ihre Projekte umzusetzen.

Eine Stimme für diesen Weg hat sie mindestens. Hoffentlich auch genug andere.